Migration aus Marokko - Verschwunden auf der Suche nach Perspektiven

Kommentar

Sieben von zehn jungen Marokkaner*innen wollen emigrieren, die meisten auf regulärem Weg. Manche wählen jedoch gefährliche Routen, erreichen Europa nie und verschwinden für immer. Was bewegt junge Menschen, ihr Leben zu riskieren, was sagen ihre Familien dazu? Und welche Rolle spielt Europa dabei?

Blumenstrauß auf Strand

Latifa[1] zieht ein Foto aus dem Stapel Bilder, der neben den Familienalben auf dem Tisch liegt. Es ist das Porträt eines jungen Mannes, der selbstbewusst in die Kamera blickt. „Das ist Abdou“, sagt sie, und zeigt ein weiteres Foto ihres Bruders, das ihn beim Fußballspielen zeigt. Abdou bestieg am 4. September 2021 gemeinsam mit sechzehn Freunden nahe Rabat ein Boot, um die knapp 300 Kilometer Atlantik zu überqueren, die Rabat von der spanischen Küste trennen. Seitdem fehlt von ihm jede Spur.

„Er wollte Profifußballer werden. Fast wäre er in eines der besten Teams Marokkos aufgenommen worden, doch durch Korruption wurde seine Bewerbung übergangen. Das hat ihn in eine schwere Krise gestürzt. Es war sein Traum, für dieses Team zu spielen, Fußball war sein Leben,“ sagt Latifa. 

Träume verwirklichen

Zu Beginn der Corona-Pandemie, als viele Menschen wegen der Ausgangsbeschränkungen ihren Job verloren und die Perspektivlosigkeit der ohnehin unzufriedenen marokkanischen Jugend weiter zunahm, habe er mit Freunden begonnen, seine „hrig“ zu planen. „Hrig“ oder, als Adjektiv, „harraga“, das bezeichnet im arabischen Dialekt der Maghreb-Staaten die Migration auf informellem Weg nach Europa[2].

„Alle aus der Gruppe waren davon überzeugt, dass sie hier ihre Träume nicht verwirklichen könnten, dass sie in Marokko keine Zukunft hätten“, erklärt Latifa. Abdou hat seiner Familie von den Plänen erzählt: Wenn er das Land nicht verlasse, würde er sich eines Tages umbringen. Als die Polizei seinen ersten Fluchtversuch verhinderte, und ein Polizist drohte, ihn zu erschießen, habe Abdou geantwortet, er solle doch schießen: „Ich sterbe sowieso.“ 

Soziale Ungleichheit und materielle Unsicherheit

Die meisten, die per „hrig“ das Land verlassen, eint das Gefühl, sie hätten nichts zu verlieren. Vor allem zu Beginn der Corona-Pandemie wuchsen Armut und soziale Ungleichheit in Marokko einer Studie des Observatoire National du Développement Humain (ONDH, Nationales Observatorium zur menschlichen Entwicklung) zufolge stark. Die Fortschritte, die im wirtschaftlichen und sozialen Bereich wie auch hinsichtlich persönlicher und politischer Freiheitsrechte von 2012 bis 2020 erreicht wurden, haben laut ONDH insbesondere junge Menschen außenvorgelassen, die nicht erwerbstätig oder ins Bildungssystem integriert waren.

„Ich begann vor dem Haus Früchte zu verkaufen, damit mich mein Bruder am Stand ablösen und arbeiten kann“, schildert Latifa ihre Bemühungen, dem Bruder eine ökonomische Perspektive zu verschaffen. Aber Abdou war fest entschlossen, sein Glück in Spanien zu versuchen. Mit seinen 31 Jahren gehört er laut ONDH-Studie zu einer Generation, die durch die Globalisierung geprägt mehr Wert auf ökonomische Selbstbestimmung und individuelle Entfaltung legt. Die erhoffte Emanzipation vom Elternhaus ist jedoch aufgrund materieller Unsicherheit schwer zu erreichen.

Ökonomischer Druck insbesondere auf Männer

„Unter jungen Männern ab 19 oder 20 ist es schon ein Ding, sich gegenseitig zu sagen: Wer kein Geld nach Hause bringt, sollte dort auch nicht leben“, erklärt der 21-jährige Student Abdellah aus Rabat. „Meine Eltern haben mir schon zu verstehen gegeben, dass sie von mir irgendwann einen Beitrag erwarten, auch wenn sie mir immer wieder sagen, dass ich zuerst in meine Bildung investieren soll. Aber ich sehe ihre Probleme im Alltag und will sie unterstützen. Ich muss Geld verdienen, so bald wie möglich.“ Abdellah überlegt, im Ausland zu arbeiten und von dort Geld nach Hause zu schicken, würde allerdings nur auf formellem Wege migrieren.

Der Wunsch zu emigrieren ist unter Männern laut Zahlen des Arab Barometer 2019  mit etwa 60 Prozent deutlich verbreiteter als unter Frauen mit knapp 30 Prozent. Zahlen des Haut Commissariat au Plan (HCP, Hohes Planungskommissariat) zufolge wollen etwa 80 Prozent der jungen Männer zwischen 15 und 29 aus ökonomischen Gründen migrieren, jedoch nur etwa 60 Prozent der Frauen. Das dürfte mit der gesellschaftlichen Erwartung an Männer als Ernährer zusammenhängen. Doch auch jüngere Frauen äußern ihre Migrationsabsichten deutlich: „Ich suche seit langem nach einer Möglichkeit, Marokko auf formellem Weg zu verlassen, weil ich hier keine Perspektive sehe“, so Amira, 34, gelernte Informatikkauffrau. Auch für sie, die seit Jahren nach einer passenden Arbeitsstelle sucht, stehen ökonomische Gründe im Vordergrund.

„Hrig“ und die restriktive EU-Migrationspolitik

Amiras Bruder Mohammed, gelernter Friseur, hat nach mehreren gescheiterten Versuchen, ein Visum zu erhalten, den informellen Weg gewählt. Seit seinem Verschwinden vor anderthalb Jahren lebt die Familie in Ungewissheit. „Er wollte unbedingt nach Europa“, sagt Amiras Mutter. Sie meint: Hätte er zuvor die Chance gehabt, Spanien kennenzulernen, wäre er auf lange Sicht nach Marokko zurückgekehrt. Doch ein Schengen-Visum für einen touristischen Aufenthalt in Europa ist für den Großteil der Gesellschaft aufgrund der bürokratischen und finanziellen Hürden unerreichbar. Während der Warenaustausch mit der EU floriert, unterliegt die Bewegungsfreiheit für marokkanische Staatsangehörige rigorosen Beschränkungen.

Abdellah kann den Wunsch nach Veränderung nachvollziehen: „Der einzige Grund aus dem ich eine „hrig“ riskieren würde ist, um zu reisen, wenn ich keine anderen Möglichkeiten habe,“ betont er. Er spricht vielen jungen Marokkaner*innen aus der Seele. Die Lockerung der restriktiven Visapolitik ist eine der meistgenannten Forderungen, die Angehörigen von Verschwundenen an EU-Regierungen richten.

Mangelhaftes staatliches Sozialsystem

Die Chance, mit Papieren zu migrieren, ist eng an einen guten sozioökonomischen Status geknüpft. Doch die entsprechenden Bildungs- und damit auch beruflichen Möglichkeiten hängen stark vom Familieneinkommen ab. Staatliche Unterstützung gibt es kaum: „Familien erhalten 300 Dirham [etwa 30 Euro] pro Kind und Monat. Und das gilt auch nur für Arbeitnehmer mit Vertrag,“ sagt Latifa. In einer Gesellschaft, in der Schätzungen zufolge mehr als ein Drittel aller Erwerbstätigen im informellen Sektor arbeiten, fallen somit genau diejenigen durchs Raster, die soziale Unterstützung am nötigsten hätten. 

Für Frauen mit Migrationsabsicht sind Aspekte wie bessere Sozial- und Gesundheitsleistungen, ein besseres Bildungssystem für die Kinder oder die Fortsetzung von Studium und Ausbildung mit gut 35 Prozentpunkten mehr als doppelt so wichtig wie für Männer. „Weil ein echter Sozialstaat mit einem funktionierenden öffentlichen Gesundheitsangebot fehlt, erfüllt in Marokko die Familie die Funktionen des sozialen Schutzes“, schreibt Ali Bouabid, Journalist und Leiter der gemeinnützigen Stiftung Abderrahim Bouabid. Das untermauert auch der Trust Index 2021 des Moroccan Institute for Policy Analysis (MIPA), demzufolge die Kernfamilie extrem hohe Vertrauenswerte genießt, während das Vertrauen in öffentliche Institutionen wie das Gesundheitssystem mittelmäßig ausgeprägt ist. Dass die Familie das einzige effektive Unterstützungsnetzwerk darstellt, erschwert die Situation marginalisierter Jugendlicher, die nicht oder nur begrenzt auf familiäre Ressourcen zurückgreifen können. Eine „hrig“ erscheint manchen als einziger Ausweg.

Die Suche nach den Verschwundenen

Wie Latifa kümmert sich auch Amira in ihrer Familie darum, nach dem verschwundenen Bruder zu suchen. Verschiedene lokale NGOs unterstützen die Familien, klären sie über ihre Rechte auf und vernetzen, meist über WhatsApp- oder Facebookgruppen. Darüber hinaus können Angehörige Anfragen an den Roten Halbmond, das Rote Kreuz und Organisationen wie das Centro Internacional para la Identificación de Migrantes Desaparecidos (CIPIMID, Internationales Zentrum für die Identifikation verschwundener Migrant*innen) stellen. 

Oft nicht zu identifizieren

Eine große Herausforderung stellt die mangelnde Kommunikation zwischen den verschiedenen Akteuren auf marokkanischer Ebene, auf Ebene der Maghreb-Staaten und mit der europäischen Seite dar. Beispielsweise kann die DNA verschwundener Afrikaner*innen aufgrund fehlender Abkommen nicht mit der DNA von auf europäischer Seite gefundenen Leichen abgeglichen werden. 

„Europa muss Möglichkeiten für einen DNA-Abgleich schaffen, damit die Identifikation einfacher wird und die Familien zumindest im Todesfall Gewissheit haben“, fordert Latifa. Gemeinsam mit anderen Angehörigen verschwundener Migrant*innen nimmt sie regelmäßig an Protesten und Kundgebungen teil, um EU-Vertreter*innen in Marokko und marokkanische Behörden auf ihre Forderungen aufmerksam zu machen. 

Die Proteste werden vorwiegend von Frauen getragen. „Wir haben festgestellt, dass mehrheitlich Frauen zu uns kommen, meistens Mütter. Die Väter arbeiten, das ist ein Faktor. Die Mütter haben eine stärkere Bindung an ihre Kinder als die Väter. Die Väter verlieren meistens nach zwei oder drei Jahren die Hoffnung“ erklärt der Leiter einer lokalen Organisation, die Familien in ihrer Suche nach den Verschwundenen unterstützt.

Rollenverteilung und emotionale Belastung der Familien

„Für die ganze Familie das Geld zu verdienen ist traditionell Aufgabe des Vaters. Die Frau hat sich um das Haus und die Kinder zu kümmern: um die Kinder, die geblieben sind und um diejenigen, die verschwunden sind,“ erklärt Latifa. Das ist die Rollenverteilung, die in vielen sozioökonomisch benachteiligten Familien vorherrscht. Die starke Bindung an ihre Kinder oder Geschwister, die die Frauen schildern, ist somit auch Ergebnis einer entsprechenden Erziehung. Die Männer der Familie hingegen sprächen laut den Frauen nicht über das Verschwinden ihrer Söhne und Brüder. „Mein Vater steht bis heute unter Schock. Da ist nur Schweigen,“ erzählt Amira.

Dass die Männer nicht sprechen heiße aber nicht, dass ihnen das Verschwinden der Söhne oder Brüder egal ist. „Sie müssen nur arbeiten, um alles am Laufen zu halten,“ erklärt Latifa. Männer sprechen nicht über die Verschwundenen, um zu vermeiden, dass die Gefühle sie von der Erfüllung ihrer Rolle als starker Versorger abhalten, die sie qua Sozialisation als natürlich betrachten. Dabei ist es offensichtlich, wie stark sie das Verschwinden eines geliebten Menschen einerseits und die Unmöglichkeit, ihre Trauer darüber auszudrücken andererseits, beeinträchtigt: „Als mein Vater vor kurzem krank im Bett lag und ihn Verwandte nach Abdou fragten, ist er in Tränen ausgebrochen“, erklärt Latifa. Und Amiras Mutter berichtet, dass ihr Mann seit dem Verschwinden des Sohnes kaum noch schlafe. „Niemand kann seine Kinder vergessen“, sagt Latifa. 

Marokko und EU: politische Maßnahmen notwendig

Marokkos König Mohamed VI sieht die Politik durchaus in der Verantwortung für die jungen Menschen. „Tatsächlich kann ein junger Mensch nicht dazu berufen werden, seine Rolle zu spielen und seine Pflicht zu erfüllen, ohne dass er zuvor die notwendigen Möglichkeiten und Qualifikationen erhalten hat. Diesem jungen Menschen müssen wir etwas Konkretes bieten, insbesondere in Bezug auf Bildung, Beschäftigung, Gesundheit und in vielen anderen Bereichen“, sagte er 2018 in einer Rede. 

Eine Politik, die der Jugend faire wirtschaftliche und soziale Teilhabechancen ermöglicht, wäre ein wichtiger Schritt, um der Perspektivlosigkeit insbesondere benachteiligter junger Menschen etwas entgegenzusetzen. In der Verantwortung Europas liegt es jedoch, eine Migrationspolitik unter Achtung der Menschenrechte zu schaffen und sich an die Seite derjenigen zu stellen, die Familienmitglieder verloren haben und teils seit Jahren oder gar Jahrzehnten nach ihnen suchen. Die Kooperation mit den entsprechenden Organisationen der Zivilgesellschaft im Maghreb und in Südeuropa und die Schaffung von Möglichkeiten für einen DNA-Abgleich wären erste wichtigen Schritte dafür. 


Dieser Artikel entstand im Rahmen eines Praktikums im Büro der Heinrich-Böll-Stiftung Rabat. Das Büro Rabat arbeitet mit verschiedenen zivilgesellschaftlichen Partnerorganisationen zu Rechten von Migrant*innen, das Thema der verschwundenen Migrant*innen ist ein Schwerpunkt.


[1] Zur Sicherheit der Interviewten sind die Namen im Text anonymisiert.

[2] Amade M’charek schreibt in ihrem Artikel „Harraga: Burning borders, navigating colonialism“: “Harraga (الحراقة) is an Arabic word used in Tunisia, Algeria and Morocco. It could be translated as those who burn. A pragmatic or accommodating translation would be ‘sans papiers’, or ‘undocumented migrants’. However, harraga is not a word for a group of people, but for an activity. The activity of moving out of the Magreb. Those who engage in harga, ‘burn’ borders in order to enter European territories, or overstay their visa.”